Artikel in der Schwabmünchner Allgemeine vom 30.06.2018:
Sechs Zentimeter können entscheidend sein

Menschen mit Behinderung prüfen, wie barrierefrei Untermeitingen ist. Auf einer kurzen Strecke zeigt sich, welche Hindernisse sie zu überwinden haben.



VonVeronika Lintner

Die Autos stoppen, die Fußgängerampel springt auf Grün. Doch Alfred Schwegler geht nicht über die Straße, er bleibt weiter an der Ampel stehen. Ein hörbares Zeichen, ein rhythmisches Knacken und dann ein Piepsen – das würde Schwegler helfen. Doch er bleibt weiter stehen, nicht weil er unaufmerksam ist, sondern weil er die Grünphase nicht mitbekommt. Der Mann mit dem weißen Langstock hört kein akustisches Signal; an der Ampel hängt nur ein abgegriffener Druckknopf. Doch Schwegler steht hier nicht allein, mitten in Untermeitingen. Zehn weitere Menschen scharen sich um den Blinden und diskutieren über die Ampel an der Lechfelder Straße. Dann und wann löst sich ein Mitglied aus dem Gespräch und überquert die Straße, zu Fuß oder im Rollstuhl – und schließlich wagt auch Schwegler den ersten Schritt. Gemeinsam mit seiner Ehefrau, die ihm nicht von der Seite weicht.

Sechs Menschen mit Behinderung testen, wie barrierefrei die Gemeinde Untermeitingen ist. „Audit-Gruppe“ nennen sie sich und sind im Auftrag des Landkreises Augsburg unterwegs. Es ist schwül, und ein schwarz-blauer Wolkenteppich zieht über ihre Köpfe. Vor ihnen fließt und stoppt der Verkehr auf der Lechfelder Straße, Kinder schnellen mit ihren Fahrrädern an der Gruppe vorbei und über den Fußgängerübergang. Heike Baumgartner rollt gleich mehrmals über die Straße. Ein Sonnenhut ruht lässig auf ihrem Rücken, die Hutkordel baumelt um ihren Hals. Die GrünPhase ist kurz, doch Baumgartner findet sie ausreichend. Von ihren Kollegen wird sie gerne als „die Sportlerin“ bezeichnet. Sie bedient ihren Rollstuhl am liebsten selbst.

Der Spaziergang erstreckt sich über einen Kilometer Jeder hat eine Idealvorstellung für so einen Fußgängerüberweg. Und zwischen zwei Wünschen liegen manchmal nur sechs Zentimeter. Sechs Zentimeter Bordsteinhöhe würden genügen, damit Schwegler mit seinem Langstock die Grenze zwischen Straße und Gehweg ertasten kann. Null Zentimeter sind für Heike Baumgartner ideal, um mit ihrem Rollstuhl die Straße problemlos queren zu können.

Im Rathaus von Untermeitingen beginnt der Rundgang an diesem Juni-Nachmittag. „Der Spülknopf für die Behindertentoilette im Rathaus ist etwas zu weit hinten, aber ein Rollstuhl hat gut Platz“, sagt Baumgartner. Aber mit einem E-Rollstuhl werde es schon knapp, sagt eine weiß gekleidete Frau. Sie begleitet Werner Mittelbach. Er trägt an diesem Sommertag eine Schiebermütze, einen Schal und einen feinen Pulli. Für den Rundgang ist er gut gerüstet: An seinem elektrischen Rollstuhl hängt ein Regenschirm, eine Trinkflasche, Decken und sogar ein Sonnenschirm, der direkt am Stuhl montiert ist.

Der Spaziergang erstreckt sich über einen Kilometer. Rathaus, Schulstraße, Alemannenstraße, Lechfelder Straße bis zum Haus Lechfeld. Keine 15 Minuten, auch mit gemächlichen Schritten. Aber die Audit-Gruppe nimmt sich mehr als eine Stunde für den Weg. Meter für Meter erarbeiten sie sich die Strecke, vorbei an Gartenzäunen und Geschäften, Ampeln und Kreisverkehren. Breit sei der Gehweg, finden alle. Das ist gut. Doch die Bordsteinkanten bereiten Schwegler Probleme. Bürgermeister Simon Schropp ist aufmerksam und tippt immer wieder etwas in sein Smartphone. Er notiert sich, was die Audit-Gruppe anmerkt. „Das wird noch eine lange Liste“, sagt Eva Weiß und lächelt. Sie trägt seit Schulzeiten ein Hörgerät. Sie will noch etwas anmerken, doch der Bürgermeister geht ein paar Meter voran und ist in seine Notizen vertieft. Die Frau mit der gestreiften Bluse schmunzelt und ruft: „Herr Schropp, brauchen Sie etwa auch ein Hörgerät?“ Alle lachen, am lautesten der Bürgermeister. Eva Kurdas spricht etwas weicher und leichter als die anderen Mitglieder. Jedes Wort scheint in das nächste zu fließen, dennoch versteht sie jeder. Sie ist Behindertenbeauftragte des Landkreises und Leiterin des Projekts. Sie erklärt, dass es die Audit-Gruppe „Barrierefreier Landkreis“ seit 2015 gibt. Die Mitglieder testen Museen, Plätze und Gemeinden. Das Ehepaar Schwegler ist seit drei Jahren dabei. Sie sind eine Einheit. Graues Haar, graue Hose, blaues Shirt – beide. Sie trägt ein dunkleres Blau und er einen gelben Button mit drei schwarzen Punkten auf seinem Shirt. Der Stock des großen Mannes schwebt über feinste Kanten, von Pflaster zu Asphalt, er stößt an Widerstände, an Büsche. Der Stock zeichnet Halbkreise auf das Pflaster, vor Schweglers Füßen, von links nach rechts und wieder zurück. Wie eine Standuhr, deren Pendel hin und her schlägt. Ein sehr leises Schaben und Klicken begleitet seine Schritte. Der Boden muss für ihn eine klare Sprache sprechen. Er muss ihn lesen können, hören und spüren. Bodenindikatoren wie Rillen, Spuren und Bodenmuster helfen dabei.

Kein Handicap ist wie das andere



Als der Gehweg eine breite Hauseinfahrt kreuzt, richten sich die Augen aller anderen auf den Blinden. Das Pflaster ändert sich hier, das Muster wechselt für ein paar Meter. Doch der Blinde merkt es nicht. Als ihn die Gruppe aufklärt, sagt er: „Mit viel Fantasie, aber auch nur dann, könnte man hier etwas erahnen.“ Es ist eine dieser Gefahrenstellen. Wenn der Bordstein zu niedrig ist, „dann steht man als Blinder schnell mitten auf der Straße“. Am gefährlichsten seien Kreisverkehre. Doch seine Frau passt auf ihn auf. Als die Gruppe an der Grundschule vorbeigeht und Bürgermeister Schropp verkündet, sie soll barrierefrei werden, fragt Gerlinde Schwegler: „Barrierefrei auch für Blinde?“ Sie kann sich genau in ihren Mann hineinversetzen. „Ja kein Wunder, nach 40 Jahren“, sagt Alfred Schwegler und lacht kurz auf.

Eva Weiß hakt immer wieder nach, nicht nur für sich und andere Schwerhörige. Wenn Alfred Schwegler von Barrieren spricht, wenn sich ein Hindernis auf dem Gehweg auftut, dann erklärt sie: „Wenn Tonnentag ist, dann ist das für Blinde auf den Gehwegen besonders schwierig.“ Schmale Kanten, die seien am schlimmsten für Gehbehinderte, sagt Roswitha Frieb, die auch ein Hörgerät trägt. Doch jeder könne von barrierefreien Wegen profitieren, jeder könne von Hindernissen betroffen sein. „Ich kann das besser nachvollziehen, seit ich als Vater mit dem Kinderwagen unterwegs bin“, sagt Simon Schropp. Die anderen nicken und meinen: Ja, ungefähr so ist es – nur etwas anders. Denn kein Handicap ist wie das andere. „Es gibt da so einen Spruch: Nicht sehen, trennt von den Dingen. Nicht hören, trennt von den Menschen“, sagt Eva Weiß. Im Berufsleben habe sie sich schwergetan, sei gemobbt worden von Kollegen. Sie liebt Musik, spielt Orgel und Bassflöte. Vor vier Jahren bekam sie ihr neuestes Hörgerät. „Als ich dann mein Lieblingsstück wieder gehört habe, dann war das wie Weihnachten und Geburtstag in einem.“ Doch in den vergangenen Jahren ließ ihre Hörleistung weiter nach.

Als der Rundgang mit einer Kaffeerunde endet, hängt um den Hals von Eva Weiß ein kleines elektronisches Kästchen, und ein Mikrofon macht die Runde. Sie sind mit dem Hörgerät verbunden. Und so kann auch sie dem Schlussgespräch folgen, mit allem Lob und Kritikpunkten. „Ist schon toll, diese Technik“, sagt sie.

Alfred Schwegler hört sehr aufmerksam zu. Seine rechte Hand führt die Kaffeetasse zum Mund, seine linke Hand hält die Untertasse. Ein Schluck, dann reicht ihm seine Frau das Mikrofon. Schwegler erklärt, wo er Handlungsbedarf sieht, wo er an diesem Tag auf Hürden gestoßen ist. Doch eines liegt ihm am Herzen. „Herr Schropp, wir sind nicht zum Meckern hier. Wir wollen nur vermitteln, wie Menschen mit Handicap das alles erleben“, sagt er. „Sie sind damit nicht allein. Denn eine ideale Welt, die gibt es nirgends.“ Seine Frau hört ihm zu, Stolz liegt in ihrem Blick.